Kontrollverlust im Hangflug
Ein Wandersegelflug endet in den Alpen tödlich. Muss die Gefahr eines Strömungsabrisses besser thematisiert werden und wie steht es um Stall-Warnungen in Segelflugzeugen?
Autorin: Evelyn Pesentheiner
Am 23. August 2024 kurz nach 15.53 Uhr endet der Flug eines Arcus M rund einen Kilometer südöstlich des Chistehorns bei Niedergesteln (VS). Ein Zeuge hatte beobachtet, wie das Segelflugzeug «in einer Rolle fast senkrecht nach unten gestürzt und mit der Rumpfnase voran auf dem Boden aufgeprallt» sei. Zuvor hatte die Maschine während knapp zwölf Minuten Achterschleifen geflogen und dabei an Höhe gewonnen. Am Unfalltag herrschte Blauther-mik mit einzelnen kleinen Cumuli. Beim Aufprall erlitten beide Piloten, ein 46- jähriger und ein 72-jähriger Schweizer, tödliche Verletzungen.
Gestartet war der in Österreich immatrikulierte Arcus M, eingetragen als OE-9485, um 13.28 Uhr im Eigenstart auf dem Flugplatz Birrfeld (LSZF). Die Männer, beide im Besitz einer Segelfluglizenz, hatten die Absicht, einen Wandersegelflug über den Alpenhauptkamm bis nach Grenoble in Frankreich zu unternehmen. Am darauf-
folgenden Tag sollte der Flug zurück nach Langenthal (LSPL) führen. Das Hochleistungssegelflugzeug mit Eigenstartfähigkeit hatten die Piloten von einer Drittperson gemietet.
Im überzogenen Flugzustand
Am Flugzeug wurden keine technischen Mängel festgestellt. Die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (SUST) kommt zum Schluss, dass «der Unfall, bei dem das Segelflugzeug aus geringer Höhe über dem Gelände in eine nahezu senkrechte Steilspirale übergegangen ist, auf einen Kontrollverlust infolge Überschreitens des kritischen Anstellwinkels zurückzuführen ist.» Ein abruptes Abkippen durch Strömungsabriss also, wodurch aufgrund der Nähe zum Gelände das Flugzeug nicht mehr abgefangen werden konnte. Der Schwerpunkt, der möglicherweise im hinteren Bereich, aber innerhalb der zulässigen Grenzen gelegen hatte, könnte den Unfall zusätzlich begünstigt haben.
Gemäss Segelflugwetterprognose herrschte am Unfalltag mässige Thermik für das Mittelland und die westlichen Alpen, für die Alpensüdseite wurde kaum Thermik erwartet. Auf dem Weg via Hallwilersee, Sempachersee, westlich an Luzern vorbei und via Interlaken und Kandersteg zum Gemmipass, betätigten die Piloten mehrmals den Motor, um Höhe zu gewinnen. Auf einer Flughöhe von 2991 m/M stellten sie den Motor letztmals ab und flogen anschliessend im Gleitflug den Südhängen des Rhonetals entlang. Der Flugverlauf mit mehrmaligem Motoreinsatz unterstreicht die nicht idealen Thermikbedingungen. Eine Landung im Gleitflug auf dem Flugplatz Raron, so zeigt der Unfallbericht, wäre aber jederzeit möglich gewesen. Auch wird im Bericht darauf verwiesen, dass auf der Internetplattform WeGlide für den Unfalltag mehrere Streckenflüge entlang der Südhänge des Oberwallis dokumentiert worden sind. In der Gegend nördlich von Raron drehten die Piloten jeweils um. Dabei erreichten sie meist Höhen über 3000 m/M. Nicht eine ausweglose Situation in den Bergen, sondern die nicht rechtzeitig erkannte Gefahr eines Strömungsabrisses hat demnach zum tragischen Unfall geführt.
Möglichkeiten eines Warnsystems
Im Abschlussbericht zum Unfall listet die SUST für den Zeitraum von Juli 2008 bis zum Absturz des Arcus M weitere
19 Unfälle von Segel- oder Motorsegelflugzeugen auf, die auf Kontrollverlust im Flug zurückzuführen sind. Eine auffällig hohe Anzahl ähnlich gelagerter Fälle. Wie kommt es dazu?
Im Motorflug gehört die Stall-Warnung, also eine Überziehwarnanlage, zur Grundausrüstung eines Flugzeugs. Eine Metallzunge oder ein Unterdruckloch befindet sich an der Flügel-
vorderkante. Steigt der Anstellwinkel über den kritischen Punkt, löst die Konstruktion ein akustisches Signal aus und warnt den Piloten so vor dem drohenden Strömungsabriss. Im Segelflug ist eine Stall-Warnung nicht vorgeschrieben. Nur wenige Flugzeugtypen verfügen über eine entsprechende Vorrichtung.
Die SUST nimmt den jüngsten Unfall zum Anlass, mit Nachdruck an eine Sicherheitsempfehlung zu erinnern, welche sie vor 17 Jahren ausgesprochen hat. Demnach sollten die Hersteller von der EASA verpflichtet werden, auch Segelflugzeuge mit einem entsprechenden Warnsystem auszurüsten. Haben Behörden und Branche den Appell verschlafen?
So einfach ist es nicht. Einzelne Hersteller bieten für ihre Modelle eine Überziehwarnung an. Ein System allerdings, das für alle Typen von Segelflugzeugen funktioniert, ist bis heute noch nicht auf dem Markt. Das Thema, so erläutert die BAZL-Kommunikationsleiterin Christine Caron, wurde innerhalb der Organisation Scientifique et Technique du Vol à Voile (OSTIV) diskutiert und wird von diesem Gremium weiterverfolgt. Da Segelflugzeuge oft in einem Bereich nahe der Minimalgeschwindigkeit betrieben werden, ist eine technische Lösung analog zum Motorflug nicht zielführend. Das erklärt auch Roland Bieri, Chef Ausbildung beim Segelflugverband der Schweiz. Klassische Überziehwarnungen würden beim Segelflugzeug die Strömung stören und wenig bringen, da sie auch dann warnen, wenn es nicht nötig ist. Ein System, das zu viele Warnungen von sich gibt, verleitet die Piloten dazu, diese zu ignorieren, das sieht man auch im BAZL so.
Sensibilisierung findet laufend statt
Die zweite Sicherheitsempfehlung, die die SUST im Nachgang zum Unfall des Arcus M abgibt, betrifft die Prävention. Das BAZL sollte zusammen mit dem Segelflugverband «eine zeitnahe Sensibilisierung der Segelflug-Community in geeigneter Form hinsichtlich des Kontrollverlustes, insbesondere im Hangflug, erwirken.» Was sagen die Angesprochenen dazu? In den einzelnen Segelfluggruppen greifen die Safety Officers regelmässig sicherheitsrelevante Themen auf. Schwere Unfälle würden ausserdem im Safety-Workshop besprochen, so Roland Bieri. Diesen führt der Segelflugverband jedes Jahr Ende Januar durch. Das BAZL weist auf seine Safety-Kampagne «Stay Safe» für die General Aviation hin. Seit über zehn Jahren werden auf dieser Website Beiträge zur Sicherheit veröffentlicht, auch für Segelflieger. Zurzeit ist ein neues Video speziell für den Segelflug in Arbeit, das kurz vor der nächsten Segelflugsaison im Frühling 2026 veröffentlicht werden soll. In Weiterbildungsveranstaltungen zeigt das BAZL ausserdem das Erklärvideo der SUST zum Unfall der Ju 52, das den Zusammenhang Anstellwinkel/Auftrieb versus Geschwindigkeit vor Augen führt.
Abschlussbericht Nr. 2431 über den Unfall des Segelflugzeuges Arcus M, OE-9485, vom 23. August 2024, rund 1 km südöstlich des Chistehorn, Gemeinde Niedergesteln (VS).

