Offene Fehlerkultur – im Luftsport umsetzbar?

Auch in der Leichtaviatik müssen Vorfälle nach einem etablierten Muster bei den Behörden gemeldet werden. Wie gehen wir aber im eigenen Verein damit um, wenn einem Mitglied ein Missgeschick widerfährt? Ein Gastbeitrag aus Deutschland zeigt mögliche Wege auf.

Autor: Matthias Jungkurth

Die Meldung und Aufarbeitung sicherheitsrelevanter Vorkommnisse – auch als «Critical Incident Reporting» oder «Occurrence Reporting» bekannt – wird seit vielen Jahren vor allem in der Medizin- und Luftfahrtbranche erfolgreich praktiziert – teilweise aufgrund und im Rahmen gesetzlicher Vorgaben, manchmal aber auch aus freiwilligem Antrieb heraus in deutlich grösserem Umfang.

Die Idee dahinter ist so simpel wie genial: Nicht jede sicherheitskritische Erfahrung, nicht jeder Fehler muss von jedem oder jeder selbst gemacht werden, wenn es gelingt, die Informationen über entsprechende Vorkommnisse zu sammeln, in geeigneter Weise aufzubereiten und schliesslich allen potenziell betroffenen Personen zugänglich zu machen.

Erster Schritt: Die Meldung

Am Anfang steht dabei fast immer die Meldung über ein poten­ziell sicherheitskritisches Ereignis durch einen Betroffenen, einen Beobachter oder bestenfalls den Verursacher selbst, gegebenenfalls auch in anonymisierter Form. Je nach Ausgestaltung des konkreten Meldesystems wird die Meldung nun organisations­intern aufgearbeitet. Das Wichtigste dabei: Zu keinem Zeitpunkt geht es darum, irgendwen zur Rechenschaft zu ziehen oder jemandem eine Schuld zuweisen zu wollen. In der Regel wird das Ereignis objektiv bewertet, es werden Ursachen ermittelt, Lösungsansätze entwickelt und Verbesserungsvorschläge erarbeitet. Nach Abschluss der Massnahmen werden das Ereignis selbst, die Ergebnisse der internen Aufarbeitung, die gewonnenen Erkenntnisse und die abgeleiteten Massnahmen allen Organisationsangehörigen zugänglich gemacht.

Die Flugsicherheitsabteilung der Lufthansa beispielsweise nutzt hierzu ihre seit Jahrzehnten regelmässig erscheinende ­«CF-Info», eine firmeninterne Flugsicherheitspublikation. Die Abteilung des Generals Flugsicherheit in der Bundeswehr pflegt in ihrer Zeitschrift «Flugsicherheit» ebenfalls eine eigene Rubrik, die sich mit Berichten aus dem «Freiwilligen Meldesystem Flugbetrieb» befasst. Aber auch viele andere Flugbetriebe, national wie international, zivil und militärisch, pflegen solche Formate als Form der aktiven Flugsicherheitsarbeit.

Der Unterschied zur Flugunfalluntersuchung

All diese Formate haben zum Ziel, die ständige Weiterentwicklung aller am Flugbetrieb Beteiligten zu fördern sowie Unfälle und Störungen zu verhindern, bevor sie passieren. Hierin liegt auch eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale zur Flugunfalluntersuchung, die als solche zwar auch die Verhütung von Unfällen zur Prämisse hat, in der Regel aber erst dann erfolgen kann, wenn der Zwischen- oder Unfall schon passiert ist. Während Flugunfälle und auch die meisten Zwischenfälle in ihrem Ergebnis offensichtlich sind, zielen Ereignismeldesysteme auf Vorkommnisse ab, die deutlich früher in der potenziellen Entstehungskette eines Unfalls (vielen von uns auch als Schweizer-Käse-Modell geläufig) angesiedelt sind.

Ohne die zugehörigen Meldungen blieben diese Ereignisse im Verborgenen und das hierin enthaltene, wertvolle Erkenntnispotenzial für alle Beteiligten ungenutzt. Die Idee des Occurrence Reporting lebt somit in besonderem Masse von den freiwillig eingebrachten Meldungen. Diese erfordern Mut, eine offene und gesunde Fehlerkultur sowie passende Anreize seitens der Organisationen.

Nun geniessen wir als Luftsportler in unseren ehrenamtlich betriebenen Vereinen und Flugschulen leider nicht den Luxus ganzer Abteilungen voller Flugsicherheitsprofis, die sich in Vollzeit für unsere luftsportlichen Flugsicherheitsbelange einsetzen können. Die Frage ist also, wie wir die guten Ideen aus den grossen Meldesystemen auch im kleinen Massstab, bestenfalls ohne übermässig formalisierten Rahmen, für uns nutzbar machen können.

Mit gutem Beispiel vorangehen

Hierbei sind insbesondere – aber nicht nur (!) – die Fluglehrer unter uns gefragt. Warum nicht im Debriefing eines Ausbildungsfluges auch über die eigenen Fehler sprechen, anstatt ausschliesslich über die des Flugschülers? Gerade in der Ausbildung von «Fussgängern» sollte vermittelt werden, dass es in der Fliegerei – im Gegensatz zu vielen anderen Lebensbereichen – völlig normal ist, offen über eigene Fehler zu sprechen. Gemeinsam erlebte Vorkommnisse kann man beispielsweise auch gemeinsam an den Vereinsvorstand oder Ausbildungsleiter weitermelden:

«Lieber Ausbildungsleiter, XYZ und ich sind während des Schulflugs heute Morgen mit teilweise angezogener Parkbremse gestartet. Wir waren leicht und das Gras war noch nass vom Tau. Unseren Fehler haben wir erst bei der Landung bemerkt (das Gras war inzwischen abgetrocknet). Das Flugzeug verzögerte ungewöhnlich nach dem Aufsetzen und es war schwierig, die Richtung zu kontrollieren. Wir haben keine Schäden feststellen können, aber ich habe den Technikbeauftragten angerufen und ihn auch in CC genommen. Eventuell kannst du auch die anderen Lehrer und Schüler nochmal sensibilisieren und unsere Mail weiterleiten. Vielleicht können wir auch die Checkliste vor dem Start noch um den Punkt «Parkbremse gelöst» erweitern.»

Wenn wir diese Art des Umgangs mit eigenen Fehlern leben und vorleben, der im Beispiel genannte Ausbildungsleiter angemessen reagiert und womöglich sogar die erwähnte Checkliste zügig angepasst wird, haben wir gute Chancen, unseren heutigen Schüler zur Nachahmung bewogen zu haben, wenn dieser morgen als Soloschüler oder Lizenzinhaber allein im Flugzeug sitzt.

Andere Kollegen ermutigen

Manchmal kommen wir in die Verlegenheit, einen Fehler oder Defizite bei anderen zu beobachten oder es vertraut sich uns jemand mit seinen persönlichen Erfahrungen an. Dann sind wir gefragt, sensibel damit umzugehen, den oder die Betroffene im Zwiegespräch(!) zu bestärken und ihm oder ihr unsere Unterstützung dabei zuzusichern, dem Problem zu begegnen: «Mir ist aufgefallen, dass deine Anflüge mit der D-1234 oft zu schnell sind und deine Landungen ziemlich lang werden. Ich hatte auf diesem Muster zu Anfang das gleiche Problem. Ich hab dann nochmal ein paar Windenstarts mit Fluglehrer XYZ gemacht, das hat mir sehr geholfen. Wenn du willst, rufe ich ihn mal an und frage, ob er am Samstag mit dir auch nochmal ein, zwei Starts macht.»

Den Grundgedanken der Meldesysteme im Hinterkopf, könnte man den Leidensgenossen im Anschluss an das Auffrischungstraining ermutigen, eine gemeinsame Meldung an den Vereinsvorstand zu schreiben: «Lieber Vorstand, Kamerad ABC und ich hatten in der Vergangenheit Probleme mit zu schnellen Anflügen und langen Landungen auf der D-1234. Wir beide haben nochmal ein paar Trainingsstarts mit Fluglehrer XYZ gemacht. Er zeigte uns einige sehr wirksame Kniffe bzgl. Landeeinteilung in Verbindung mit der Bedienung der Trimmung und den Wölbklappen. Jetzt sitzen unsere Landungen wieder einwandfrei! An dieser Stelle herzlichen Dank an XYZ! Gerne dürft ihr unsere Mail auch an den gesamten Verein weiterleiten. Die Tipps und Tricks von XYZ sind sicher noch für mehr Mitglieder interessant.»

«Bullshitrunden»

Hinter dieser seltsam klingenden Bezeichnung steckt ein einfaches wie wirksames Konzept zur Umsetzung einer offenen Fehlerkultur. Es findet Anwendung in grossen, häufig militärischen Flugschul­betrieben, in denen auch die Praxisausbildung im Klassen- oder Crew­rahmen stattfindet. Am Abend eines Ausbildungstages kommen die Schüler der Klasse – ohne die Lehrer – zusammen und erzählen der Reihe nach von ihren Fehlern und Erkenntnissen der individuellen Ausbildungsflüge. Jeder Ausbildungsflug wird benotet und jeden erdenklichen Fehler selbst zu machen, würde im Zweifel bedeuten, die Ausbildung nicht zu bestehen. Die Schüler lernen so schon früh in ihrer fliegerischen Entwicklung, welches Potenzial im offenen Austausch über die eigenen Fehler liegt. So verwundert es nicht, dass die Bullshitrunden in aller Regel nicht «befohlen», sondern durch die Schüler selbst organisiert, gelebt und aufrechterhalten werden.

Dieses Konzept ist in ähnlicher Form relativ einfach auf unsere Segelflugschulbetriebe übertragbar. Morgendliche gemeinsame Briefings sind in vielen Segelflugbetrieben längst Standard. Warum nicht auch ein regelmässiges gemeinsames Debriefing am Abend etablieren und mit einer Bullshitrunde kombinieren? Da es hier nicht um Noten geht, darf der Lehrer auch gerne dabei sein, das Ganze moderieren und am besten sogar die Runde mit seinem eigenen Beitrag eröffnen.

Fazit: Meldesysteme funktionieren auch im Verein!

Wir halten fest, dass grosse (Luftfahrt-)-Organisationen schon seit geraumer Zeit funktionierende Meldesysteme unterhalten, eine offene Fehlerkultur fördern und ob des grossen Potenzials für die Flugsicherheit erhebliche Ressourcen einsetzen, um die damit verbundenen Ziele zu erreichen – Ressourcen, die uns im Luftsport nur in eingeschränktem Umfang zur Verfügung stehen. Dennoch gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die guten Ideen und Konzepte in abgewandelter Form auf den Luftsport zu übertragen. Es gilt, kreativ und innovativ zu sein. Und: Wir müssen uns trauen!

Dieser Beitrag stammt aus der Verbandszeitschrift des Baden-Württembergischen Luftfahrtverbands «Der Adler». Wir danken dem Verlag und dem Autor für die Verwendung in der «AeroRevue».