Der Schreck ist tödlich, nicht die Vrille
Die Vrille, beziehungsweise das nicht rechtzeitige Beenden der Vrille, ist gemäss Unfalluntersuchungen verantwortlich für viele tödliche Flugunfälle sowohl im Motorflug als auch im Segelflug. Grund genug also, etwas dagegen zu unternehmen.
Autor: Alfred Ultsch
Startle bringt die Leute um, nicht die Vrille: Als ich diesen Satz das erstemal hörte, war ich extrem skeptisch, um nicht zu sagen sogar ungläubig. «Startle», oder deutsch der Schreck, die Schreckreaktion, ist kein Kindergespenst, sondern die Bezeichnung der Psychologie für einen Reflex, dem wir alle mal mehr, mal weniger unterworfen sind. Es ist eine heftige, unwillkürliche Reaktion auf eine plötzlich auftretende Situation, die als lebensbedrohlich aufgefasst wird, also eine Reaktion auf einen plötzlich eingetretenen Notfall. Eine für das Fliegen problematische Schreckreaktion ist die dabei auftretende sogenannte Schrecklähmung.
Startle bewirkt ein Herausreissen aus dem derzeitigen Handeln. Die Aufmerksamkeit des Piloten wird, vollständig oder zumindest zum grössten Teil, auf den Schreck auslösenden Effekt gerichtet. Bei einer plötzlichen, nicht absichtlich herbeigeführten Vrille ist dies in der Regel die Fixierung auf die Erdoberfläche, auf die wir senkrecht kreisend zuzustürzen scheinen. Schlimmstenfalls mit der unwillkürlichen Reaktion, den Steuerknüppel nach hinten zu reissen und ihn dort krampfhaft festzuhalten.
Die bei einem Schreck gelegentlich eintretende Schrecklähmung bedeutet, dass der Pilot zunächst nicht reagieren kann, weil er, durch unbewusste Prozesse gesteuert, unfähig ist, koordinierte Handlungen auszuführen. Evolutionsbiologen gehen davon aus, dass sowohl der Schreckreflex als auch die Schreckstarre in uns genetisch eingebaut sind. Wenn wir uns sofort tot stellen, nimmt uns ein plötzlich auftretender Fressfeind, also der sprichwörtliche Löwe, der aus dem Gebüsch springt, eventuell nicht wahr. Somit hat ein in uns implementierter Reflex eine wichtige Schutzfunktion. Beim Fliegen kann uns eine Schreckstarre aber wertvolle Sekunden kosten. Beim Trudeln sind dies schlussendlich lebenswichtige Höhenmeter, die wir für das Beenden der Vrille brauchen.
Schreckresistenz ist trainierbar
Es gibt aber Hilfe: Sowohl Schreckresistenz als auch die Verkürzung der Handlungsstarre sind insbesondere für Piloten trainierbar. Hierzu gilt es, die auf die Situation passende Handlung (Fertigkeit) «mechanistisch», d.h. als instinktiv abrufbare Handlungseinheit, einzuüben und von Zeit zu Zeit proaktiv zu trainieren. Konkret: Wir müssen Handlungsmuster für das Ausleiten der Vrille, die oft Flugzeug-spezifisch sind, oder auch die Handlungsmuster für den plötzlich auftretenden Seilriss beim Windenstart so lange körperlich wiederholen, bis sie «in Fleisch und Blut» übergegangen sind. Dies müssen wir nicht einmal im Flugzeug trainieren. Wir können dies sogar auf einem Stuhl in Wohnzimmer simulieren. Wichtig dabei ist, dass wir die passenden Bewegungen so lange trainieren, bis sie nicht nur unser Gehirn, sondern insbesondere unser Körper gelernt hat. Für die Handlungsabläufe beim Windenstart gibt es hierzu die bekannte Checkliste «nachdrücken, nachklinken, nachdenken».
Jährliches Training hilft
Wenn die überlebenswichtigen Bewegungsabläufe zum Beenden der kritischen Situation, z. B. «Höhensteuer nachlassen, Warten, Gegenseitenruder, sanft abfangen bis Normalfluglage» eingeübt sind, sollten sie mindestens einmal im Jahr in der Praxis wiederholt werden. Hierzu bietet sich eine Gelegenheit bei den sogenannten «Checkflügen», die in vielen Vereinen und Flugschulen zu Saisonbeginn von jedem Piloten erwartet werden. Nimmt man sich anstelle eines Checkfluges einen Sicherheitstrainings-Flug (STF) vor, ist es eine gute Idee, sich mit dem Fluglehrer abzusprechen, dass dabei geübt wird, den Startle bei einer unerwartet auftretenden Vrille aktiv zu trainieren.
Als Trainings-Szenario kann man die nach den Unfalluntersuchungen am häufigsten auftretende Flugsituation heranziehen: eine ganz flache Kurve. In einer solchen Kurve mit deutlich weniger als 30 Grad Querneigung wird das Flugzeug «unmerklich» verlangsamt und auch ein Schiebeflug zugelassen. Wenn bei Erreichen der Überziehgeschwindigkeit Querruder in Kurvenrichtung dazu kommt, kann das passieren, was den tödlichen Schreck auslösen kann: Das Flugzeug kippt plötzlich und auf unerwartete Weise, nämlich entgegen der beabsichtigten Kurvenrichtung, ab und kann – wenn wir es durch Startle zulassen – in die Vrille gehen.
Selbstverständlich sollten diese Manöver in ausreichender Höhe geübt werden, damit auch bei einer Schreckstarre, mit einem verspäteten oder falsch durchgeführten Retablierungsmanöver, eine Rettung aus der kritischen Fluglage mit anschlies-sendem sicheren Weiterflug möglich ist.
Fazit: Der Schreck (Startle) muss uns nicht umbringen. Vorhergehendes Automatisieren der richtigen Handlungsabläufe (Mechanisierung) und die Nutzung eines jährlichen Sicherheitstrainings-Fluges zur Reduzierung der Schreckstarre sind hierfür unsere Lebensretter.